
Medien und Kleinkinder: so spät wie möglich, so viel wie nötig
Medien in der Kinderstube
In seinem Beitrag geht der Montessori-Pädagoge und ausgebildete Mittelschullehrer David Meixner auf psychologische Erkenntnisse und solche der Hirnforschung ein, er wirft einen Blick auf wichtige entwicklungspsychologische Schritte und kommt zu dem klaren Schluss: Nutzung digitaler Medien so spät wie möglich, so viel wie nötig.
Kinder werden heute in eine hoch technologisierte Welt hineingeboren: Ihre Eltern sind “Digital Natives”, die bereits mit verschiedenen technischen Gerätschaften aufgewachsen und bestens mit deren Handhabe vertraut sind.
Breit angelegte Untersuchungen wie die “BLIKK-Studie” (2017, Köln) machen klar: Die Benutzung von digitalen Medien, speziell gebündelt in den Smartphones, hat bereits als “Background Media”, also passiv, einen negativen Einfluss auf Säuglinge – später natürlich auch vermehrt bei aktiver Nutzung durch das Kind. Wenn Eltern während der Säuglingspflege digitale Medien benützen oder fernsehen, zeigen sich bei den Kindern Probleme bei der Nahrungsaufnahme und beim Einschlafen Durch die abschweifende Aufmerksamkeit sowie die abnehmende verbale und nonverbale Kommunikation werden auch im Bindungsverhalten Störungen beobachtet.
Bei Kindern ab zwei Jahren zeigen sich laut BLIKK-Studie bereits bei einer Stunde Mediennutzung pro Tag negative Auswirkungen: Beobachtet wurden motorische Hyperaktivität, Unruhe, Konzentrationsschwäche, Ablenkbarkeit, Sprachentwicklungsstörungen, geringere Selbstständigkeit, erhöhter Konsum/Verlangen nach Süßigkeiten und Süßgetränken.
Neben der fehlenden Aufmerksamkeit bzw. dem fehlenden In-Beziehung-Sein während der Smartphone-Nutzung sind Eltern jedoch auch wichtige Vorbilder für ihre Kinder. Kleinkinder, die ihre Eltern regelmäßig am Smartphone sehen, ahmen dies nach und wünschen sich bereits in jungen Jahren ein solches Gerät.
Was braucht das Hirn?
Für Kleinkinder besteht als einzige Möglichkeit des Denkens, etwas mit den Dingen zu tun – sie lange und langsam zu betrachten, zu berühren, nach ihnen zu greifen und sie in den Mund zu stecken.
Rückmeldungen aus allen Sinnesorganen geben dem Organismus zahlreiche Informationen zu Empfindung-Geruch-Geschmack-Aussehen-Klang des Objekts. Audiovisuelle Medien jedoch reduzieren jedes Erleben auf zwei Sinne. Ja, selbst die zwei verbleibenden sind nur ein Schatten der Realität: Bildschirme können weder drei Dimensionen noch die Farbvielfalt oder Auflösung der konkreten Realität wiedergeben.
Durch die fehlende Tiefe der Bildschirme erlahmen unsere Augen und ihre Muskulatur. Die Entwicklung des Richtungshörens, das essenziell für sichere Raumorientierung und Sicherheitsgefühl ist, ist vor einem Bildschirm/Fernseher mit Tonausgabe nicht möglich.
Während des Medienkonsums entsteht überdies eine große Diskrepanz im Gehirn: eine enorme Zahl an audiovisuellen Reizen gepaart mit beinahe vollständiger Regungslosigkeit. Eine möglichst vielfältige Sinneserfahrung – stets gekoppelt mit Bewegung – spielt jedoch eine entscheidende Rolle für das Lernen.
Wie kann ich mein Kind im Alltag begleiten?
Die erste Berührung mit Medien findet bei jungen Kindern im Alltag meist über Lautsprecher oder Bildschirme statt. Dies kann, unreflektiert eingesetzt, Folgen für die Entwicklung haben und erfordert eine entsprechende Begleitung durch die Eltern.
Hörspiele/-bücher, Toniebox etc.
Wie bei allen passiv genutzten Medien kann hier weder in die Geschwindigkeit noch Dramaturgie eingegriffen werden. Viele Eltern unterschätzen die unterschiedliche Verarbeitungsgeschwindigkeit von Kindern und ihre immense Aufnahmefähigkeit.
Zwischenmusik oder Soundeffekte, die der Erwachsene gar nicht wahrnimmt, können bei Kindern Angst und Beklemmung auslösen. Oft kommen Hörspiele, -bücher etc. auch als Einschlafhilfe zum Einsatz – auch hier ist große Vorsicht angeraten, denn zu rasch kann eine Kopplung entstehen, die das (notwendige und förderliche) Ertragen von Stille herabsetzt und ein “normales” Einschlafverhalten ohne Medium erschwert.
Ein gemeinsames Ritual des Geschichtenerzählens deckt neben dem Unterhaltungsteil auch immer das essenzielle kindliche Bedürfnis nach Nähe, Verbindung und Intimität ab.
Lehrreiche/kindgerechte Filme?
Digitale Medien überfordern in ihrer aufgezwungenen Geschwindigkeit und Regie das junge Gehirn. Gleichzeitig fehlt jede Möglichkeit der Resonanz (auf die speziell jüngere Kinder aber angewiesen sind) sowie die innere Verbalisierung. Aus der Imaginationsforschung weiß man, dass Bildschirm-Medienkonsum schädlich für den Aufbau einer EIGENEN inneren Bilderwelt ist und auch auf Sprach- und Schreibentwicklung einen hemmenden Einfluss darstellt.
Eine trügerische Falle ist es, wenn Eltern bzw. Großeltern meinen, dass mit der Entscheidung für einen scheinbar kindgerechten Zeichentrick- oder wertvollen Naturfilm die Thematik “unpassender Medienkonsum” schon zu einem Großteil abgefedert wäre. Gerade Zeichentrick kann durch den schnellen Schnitt, die vielen akustischen Effekte und der überdramatisierten/unrealistischen Darstellung eine Riesen-Überforderung für das Kind darstellen.Bei Natur/Tierfilmen kommt einerseits viel unverbundene Information auf das Kind zu: Das Kind kann noch nicht einschätzen, was das für sein Leben bedeutet, bringt aber durch den Egozentrismus alles mit sich in Verbindung.
Gleichzeitig ist klar zu sagen, dass Naturfilme alles, aber nicht die Realität abbilden. Kein Fernsehzuschauer würde, so wie die Filmemacher, Stunden/Tagelang auf die passende Szene warten. Besonders Jagdszenen sind dann meistens mit technischen und akustischen Hilfsmitteln (Superzeitlupe, packende Musik & Beschreibungen) übermäßig dramatisch dargestellt. All die Überforderung wird oft nach Sendungsende ersichtlich: innere und äußere Unruhe, Weinen, große Gefühlsregungen.
Was sich dann so deutlich zeigt, ist weniger die Enttäuschung über das Ende der Sendung als vielmehr verschiedene Anzeichen und Formen des Stressabbaus.
Abschließende Bemerkungen und Ausblick
Was wäre also eine gute Formel für die Nutzung von modernen Medien mit und für Kindern?
Vielleicht diese: “So spät wie möglich, so viel wie nötig.”
Betrachten wir es pragmatisch: Säuglinge und Kleinkinder brauchen für ihre Entwicklung Reize aus der konkreten Wirklichkeit. Das unstrukturierte Spiel ist wertvoller für die Gehirnentwicklung als JEDE Form der Nutzung audiovisueller oder elektronischer Medien. Kinder brauchen eine starke Verwurzelung in der Realität, bevor sie sich ins virtuelle Abenteuer stürzen.
Kurzum: Kinder brauchen keinen Bildschirm bzw. audiovisuelle Medien für ihre Entwicklung: Manchmal sind wir es, die Pausen in der Begleitung unserer Kinder brauchen. Wenn irgendwie möglich, sollten wir versuchen, gute andere Lösung abseits des Medien-Babysitters zu finden. Dass dies nicht immer einfach ist, gerade wenn ein Elternteil mit zwei jungen Kindern auf beengtem Raum lebt, ist für alle, die sich bereits in einer solchen Situation befunden haben, verständlich. Lösungen finden sich u.a. in der Pikler- oder Montessori-Pädagogik, eine wichtige Rolle spielt eine vorbereitete, sichere Umgebung. Z.B. kann es hilfreich sein, die untersten Regalfächer und Laden in einer Wohnung mit Spielsachen oder Utensilien zu bestücken, sodass junge Kinder einer ihrer Lieblingsbeschäftigung nachgehen können: Ausräumen, Entdecken, Erkunden.
Falls es doch einmal nicht anders geht, sollten mit Kindern möglichst ruhige, unaufgeregte und kurze Geschichten/Filme angeschaut werden, die man selbst davor gesehen und für passend befunden hat. Im Idealfall werden diese gemeinsam angeschaut. Während und nach dem Schauen empfiehlt es sich, sehr genau zu beobachten, wie die Stimmungslage des Kindes ist – und wie es ein- und durchschläft.
Das Thema allein den Eltern und Familien zu überlassen, ist jedoch angesichts der Tragweite der Folgen für die Gesellschaft zu wenig. Von Seiten der Politik kann viel getan werden: Elternbildungsprogramme in Kindergärten und Schulen zum Thema Nutzung von digitalen Medien sollen flächendeckend angeboten werden. Weitere Maßnahmen wie ein Verbot von Mobiltelefonnutzung in Schulen sind bereits weit verbreitet, jedoch ausbaufähig. In einer irischen Kleinstadt ist man noch weiter gegangen: Schulen und Eltern haben sich darauf geeinigt, Kindern erst ab der neunten Schulstufe die Nutzung und den Besitz von Smartphones zu ermöglichen. Durch die einheitliche Regelung in der gesamten Stadt wird verhindert, dass ein Kind von gleichaltrigen Klassenkamerad*innen mit einem Smartphone konfrontiert wird.
Dieser Beitrag ist mit der freundlichen Genehmigung des Teams vom Entfaltungsspielraum veröffentlicht. Valerie Schmiedecker, Lisa Grünberger und das Team des Entdeckungsspielraums bieten begleitete Eltern-Kind-Gruppen, Elternbegleitung, Workshops zur Vorbereitung aufs Elternsein sowie zu verschiedenen Themen im Familienalltag an. Die Workshops und Elternbegleitung gibt es auch online und dadurch ortsunabhängig.
Quellen
BLIKK-Studie:
https://www.bundesgesundheitsministerium.de/fileadmin/Dateien/5_Publikationen/Praevention/Berichte/Abschlussbericht_BLIKK_Medien.pdf
Buchempfehlungen:
Gerald LEMBKE, Ingo LEIPNER: ”Die Lüge der digitalen Bildung”, Vlg. Redline 2018
Manfred SPITZER “Vorsicht Bildschirm!” Vlg. DTV ‘05
Patricia Cammarata „30 Minuten noch, dann ist aber Schluss!“ Eichborn 2020
https://www.derstandard.at/story/3000000173326/irische-stadt-einigt-sich-auf-smartphone-verbot-fuer-unter-ejaehrige (abgerufen am 14.11.24)

David Meixner
David Meixner ist ausgebildeter Hauptschul-/Mittelschullehrer und Montessori-Pädagoge.
Er hat langjährige Erfahrung als (Lern-)Begleiter an der Lernwerkstatt Pottenbrunn und beschäftigt sich als Forschender mit dem Bereich der Medienwelt. Als Gestalter von Medienabenden gibt er dabei sein Wissen gern an Interessierte weiter. E-Mail: david.meixner@lernwerkstatt.at
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