Jedes Kind
In einigen Schulen Londons, in Toronto, den Niederlanden, in Bildungseinrichtungen in Hamburg und Bremen machen Kinder gute Fortschritte. All diese Schulen zeigen, dass sie in schwierigen sozialen Verhältnissen gute Ergebnisse erreichen können. Das heißt, dass die Kinder deutliche Lernerfolge haben, in Bildungsvergleichen gut abschneiden und höhere Abschlüsse wagen. Was die Schulen gemeinsam haben: Sie kombinieren einen Chancenindex zur Finanzierung mit Schulentwicklung am Standort. Den Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Bildungschancen gibt es in allen Ländern. Hierzulande ist er aber besonders ausgeprägt.
Eine Möglichkeit, da gegenzusteuern, ist, Schulen in sozial benachteiligten Bezirken besonders gut auszustatten, damit sie keine Schüler*innen zurücklassen und für mehrere Einkommensschichten attraktiv bleiben. Mit dieser schulpolitischen Intervention kann zwar die Spaltung in „gute“ und „schlechte“ Wohngegenden nicht aufgehoben werden, die liegt ja in der Einkommens- und Wohnpolitik, aber es kann in den Schulen einiges verbessert werden. Die Niederlande, London, Hamburg und auch Kanada haben mit einem Chancenindex gute Erfahrungen gemacht. Mit einem solchen Sozialindex, der unter anderem Bildungsstand, Beruf und Einkommen der Eltern umfasst, würde eine Schule um einen bestimmten Prozentsatz x mehr an Ressourcen bekommen. In Toronto heißt das „Learning Opportunity Index (LOI)“. Wozu er dient, argumentieren die Kanadier so: „Die Schulen mit dem höchsten Wert haben die stärksten Herausforderungen zu bewältigen und brauchen daher die meiste Unterstützung.“ Die Maßzahlen beziehen sich in Toronto auf die unmittelbare Wohnumgebung der Schüler*innen und der Schule selbst. Die Modellschulen sind in acht Cluster gruppiert mit verantwortlichem „lead teacher“, „learning classroom teacher“ und „community support worker“. Der LOI wird alle zwei Jahre berechnet.
Wenn die humanistischen und sozialen Argumente nicht überzeugen, dann zumindest die ökonomischen: Die gesamtwirtschaftlichen Kosten von Schulabbruch betragen 1,1 Mrd. Euro im Jahr. Nichtstun kostet.
Investitionen zahlen sich aus. Würde es hierzulande bereits einen Chancenindex geben, befände sich die überwiegende Mehrheit der österreichischen Schulstandorte in den sozial gut durchmischten Chancen-Index-Stufen 3 und 4. Aber rund 17 % aller Pflichtschulen würden Stufe 5 bis 7 aufweisen, also „hoher“ bis „sehr hoher“ Unterstützungsbedarf. Am besten wäre, wenn die Auswahl „evidence based“ erfolgt, also auf Basis der wissenschaftlich erhobenen Zusammensetzung des Schulstandorts. Das Pilotprojekt aus dem Regierungsprogramm kann mit 100 Schulen nur einen geringen Anteil der Schulstandorte abdecken. Hundert teilnehmende Schulen bedeutet, dass lediglich jede elfte Pflichtschule mit großen Herausforderungen berücksichtigt wird.
Das österreichische Schulsystem delegiert erstens sehr viele Bildungsaufgaben an die Eltern. Daher hängt viel davon ab, ob die Eltern unterstützen können oder nicht. In der Soziologie wird das als „primärer Schichteffekt“ bezeichnet. Zweitens Selektion. Österreich trennt die Kinder zu früh. Je früher die Trennung, desto weniger spielt der Leistungseffekt eine Rolle, desto stärker wirkt der soziale Hintergrund bei der Bildungsentscheidung. Dies wird als „sekundärer Schichteffekt“ bezeichnet. Und drittens die soziale Zusammensetzung in der Schule. Schulen in ärmeren Vierteln mit Arbeitslosigkeit oder schwächerem ökonomischem Status wirken sich ungünstig auf die Bildungschancen der Kinder aus. Das nennt man „sozialen Kontexteffekt“.
Der Chancenindex hilft besonders bei Effekt drei, aber auch bei eins. Aus den internationalen Vergleichsstudien wissen wir aber: Mehr Geld für die Schulen bedeutet nicht automatisch, dass sie qualitativ besser werden. Deswegen muss jeder Standort ein Konzept entwickeln, wie er die Ressourcen am sinnvollsten einsetzt. Für den Erfolg zentral ist ein wertschätzendes, nicht beschämendes Vorgehen. Öffentliche Rankings von Schulen beschämen die Schwächeren, statt sie zu stärken – und vertiefen die Unterschiede. Zur Schulentwicklung ist es zielführender, wenn sozial ähnlich zusammengesetzte Schulstandorte voneinander lernen.
Es gibt einige internationale Beispiele, die zeigen, wie Schulen an benachteiligten Standorten die Trendwende schaffen können. „Wir haben jede Schule aufgefordert, drei Punkte zu nennen, in denen sie wirklich gut ist – gut genug, um andere einzuladen“, sagen die Londoner Schulreformer der „London Challenge“. Man müsse auch die Tradition brechen, dass jede*r Lehrer*in für sich allein kämpft. Hier braucht es Unterstützung und Ressourcen für die Pädagog*innen. Die Vorteile sind: Schulische Autonomie und Demokratie werden gefördert und Anreize für engagierte Pädagog*innen werden gesetzt.
Ähnliche Erfahrungen machte auch das deutsche Aktionsprogramm „Schule macht sich stark“. In Berlin beispielsweise wurden zehn Schulen ausgewählt, in denen es schwache Lernergebnisse gab, viele Kinder aus Haushalten mit wenig Geld unterrichtet wurden und in denen es häufiger als in anderen Schulen zu Gewalt kam. Die Erkenntnisse daraus:
- Schulen in kritischen Lagen verändern sich selten von sich aus. Der Anstoß muss von außen kommen,
- Unterrichtsqualität ins Zentrum rücken,
- Lehrkräftequalität sichern: schulinterne Fortbildungsprogramme aufsetzen,
- Teamstrukturen aufbauen, multiprofessionelle Teams in Schulen fördern,
- Das Grätzel, den Sozialraum um die Schule miteinbeziehen und
- Schule ganztägig führen.
Diese Erfahrungen bestätigt auch das Projekt „London Challenge“. Anfang der 2000er-Jahre stiegen nur noch neun Prozent der Schüler*innen öffentlicher Londoner Mittelstufenschulen in die Oberstufe auf. 2015 kamen 70,5 Prozent in die Oberstufe. Im Zentrum des Turnarounds stand die Qualität des Unterrichts, das Bilden von Lehrerteams, Ressourcen für pädagogischen Umbau und eine neue Haltung gegenüber den Kindern: „Lass dich nicht unterkriegen. Wir trauen dir zu, dass du viel kannst.“ Das ist alles andere als selbstverständlich, wenn wir die Debatten hierzulande ins Auge fassen. Die geht oft so: Die Schüler können nichts, auch die Eltern sind blöd, machen kann man dann eigentlich eh nichts – außer am liebsten Schüler*innen und Eltern austauschen. Aus dieser „Haltungsfalle“ rauszukommen stand im Zentrum der Schulreform. Wer hier lehrt, muss Kindern alles an Leistung zutrauen. Wer hier arbeitet, darf seine Erwartungen und die der Schüler*innen nicht selbst begrenzen. Hohe Erwartungen sind ganz wichtig – in alle Richtungen. Auch an den Spirit der Lehrkräfte: „We do these things not because they are easy, but because they are hard.“ Kunst und Theater werden in den Chancenindex-Schulen in London als Lernort für Selbstbewusstsein außergewöhnlich stark betont. Die Lehrer*innen erzählen, warum: Performing Arts bieten die Möglichkeit, Rollen auszuprobieren, sich zu behaupten, Rhetorik zu lernen, souveräner sich und eine gemeinsame Sache zu vertreten. Das brauchen die Kinder hier besonders.
Martin Schenk
Martin Schenk ist Mitinitiator der Armutskonferenz, Sozialexperte der Diakonie, Psychologe, Lehrbeauftragter FH Campus Wien. Aktuelles Buch „Brot und Rosen. Über Armut“
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